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Lagune I
Drei alte Frauchen mit Strickzeug in tiefen Sesseln debattieren in der Halle über die Leiden Christi; die Pension »Accademia« segelt verpaart mit dem Weltall Richtung Weihnacht zum Gedröhne des Fernsehers; unterm Arm das Hauptbuch dreht der Mann vom Empfang das Steuerrad.
II
Über die Gangway steigt an Bord, auf sein Zimmer tastend der Gast, eine Flasche Grappa in seiner Tasche, ein völliger Niemand, ein Mensch im Regenmantel, der Erinnerung, Vaterland und den Sohn zurückließ; seinen Rücken vermißt (aus Espenholz) ein dicker Knüppel, wenn überhaupt wer! den vom Leben Verbannten.
III
Venedigs Kirchen bimmeln wie hellklingende Teeservice aus dem Kästchen hervor als zufällige Lebenszeichen. Der bronzene Krake des Lüsters leckt im von Entengrün überzogenen Spiegel die Werkbank, das von Tränen, Liebkosungen und schmutzigen Träumen feuchte Laken.
IV
Nachts läßt die Adria per Ostwind den Canal Grande bis obenhin vollaufen wie eine Badewanne und wiegt die Gondeln; kein Ochse bläst die Nüstern auf am Kopfende, Fische bloß ragen in die Nacht und ein Seestern mischelt am Rolladen mit seinen Strahlen solange du schläfst.
V
So also werden wir leben, begießen mit dem toten Wasser und Glas der Karaffe das nasse Lodern der Grappa-Glut, zerteilen die Brachse statt der Weihnachtsgans, daß uns sättigend tröste Dein aus dem Wasser stammender Vorfahr, Erlöser, in dieser Nacht, der winterkalt-nassen.
VI
Eine Weihnacht ohne Schnee, Tanne und Engel an diesem Meer, dem von der Karte beengten; ihre Weichtier-Schale zur Tiefe sinken läßt, ihr Gesicht verbergend, doch gern ihren Rücken zeigend: die Zeit, sie steigt aus den Wellen, verrückt den Zeiger am Turm – den einen jetzt.
VII
Versinkende Stadt wo die feste Vernunft sich auflöst in feuchte Augen und besten Sumpf, wo der südliche Bruder der nördlichen Sphinx, der geflügelte Löwe, beim Lesen und Denken das Buch nicht zuklappt und schreit: Los, kämpfe! sondern glücklich im Geplätscher der Spiegel versinkt.VIII
Eine Gondel schlägt gegen die morschen Pfähle. Der Laut verneint sich selber, die Worte fehlen und das Gehör. Vor jener finsteren Macht wo die Arme sich emporrecken wie Nadelwälder vor einem kleinen, verschlagenen Dämon daß der Speichel im Mund zu Eis erstarrt.
IX
Kreuzen wir also mit der linken, samt eingeparkten Krallen in der Armbeuge, die rechte Pranke; so ergibt sich eine Geste ähnlich fast wie Hammer und Sichel. Wie bei Gogol ein Teufel der Hexe – zeigen wir sie tapfer der Epoche die jedem Albtraum gleicht der zu ihr paßt.
X
Der Körper im Regenmantel bewegt sich schon oft nun in Sphären wo Sophia, Glaube, Hoffnung und Liebe ohne Zukunft sind und schlicht die Gegenwart von immer ist, wie bitter die Küsse auch schmecken von Ebré und Gojimsmiezen und der Stadt wo keinerlei Spur der Schritt
XI
hinterläßt – wie der Kahn auf all den Wasser- flächen, und dahinter jeder Raum gefaßt in Ziffern Richtung Nullpunkt blickt und keine tiefen Spuren läßt auf Plätzen die breit sind wie ein »Lebwohl« und in engsten Gassen schmal wie ein »Ich liebe dich«. XII
Turmspitzen, Säulen, Schnitzereien, modellierte Bögen, Brücken und Paläste; schau doch lieber hinauf und das Lächeln des Löwen fällt ins Auge auf dem vom Wind wie einem Kleid umpackten Turm, unerschüttert wie ein Halm fern-vom-Acker, umgürtet von der Zeit statt von Gebrüll umgellt.
XIII
Nacht über San Marco. Ein Passant mit zerknittertem Gesicht vergleichbar in diesem Dunkel mit dem vom namenlosen Finger gestreiften Ring kaut an den Nägeln und schaut umfangen von der Stille in jenes »Nirgendwohin« wo der Gedanke vielleicht verweilen kann, die Pupille – kaum.
XIV
Dort im Nirgendwo, hinter seinen Grenzen – den schwarzen, farblosen, möglich auch weißen – liegt irgendein Ding, ein Gegenstand. Vielleicht ein Körper. In dieser Epoche der Reibung ist Lichtgeschwindigkeit Blickgeschwindigkeit weitum auch dann wenn das Licht verschwand.
_________________ Der Kopf denkt weiter als man denkt.
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